Das am 20. Januar vorgestellte Gutachten zu den sexuellen Missbrauchsfällen im Erzbistum München sieht den amtierenden Kardinal Reinhard Marx sowie die früheren Kardinäle Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter in der Verantwortung. Ihnen wird Fehlverhalten in insgesamt 27 Fällen vorgeworfen. Insgesamt untersucht das Gutachten 235 mutmaßliche Täter und 497 Betroffene. 

Der Hängemattenbischof - Protestbündnis demonstriert gegen Vertuschung von Missbrauch in der katholischen Kirche auf dem Marienplatz in München
Der Hängemattenbischof – Protestbündnis demonstriert gegen Vertuschung von Missbrauch in der katholischen Kirche auf dem Marienplatz in München
Quelle Foto: Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen

Das Münchner Missbrauchsgutachten haben die Rechtsanwälte Westphal/Spilker am 20. Januar 2021 vorgestellt. Sie bezeichnen die Erkenntnisse darin als “Bilanz des Schreckens”. Im Gutachten werden der amtierende Kardinal Reinhard Marx sowie seine Vorgänger Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.), Friedrich Wetter schwer belastet. Marx war bei der Vorstellung nicht anwesend, obwohl er eingeladen war. 

Während der Amtszeit von Kardinal Wetter stellten die Rechtsanwälte Fehlverhalten in 21 Fällen vor, bei Ratzinger in vier Fällen und bei Marx in zwei Fällen. Der emeritierte Papst hat hat eine Verantwortung in allen Fällen schriftlich zurückgewiesen. Ratzinger begründet das mit Unkenntnis der Sachlage, was aber von den untersuchenden Rechtsanwälten angezweifelt wird. 

Zwei Priester sind unter der Führung von Ratzinger von einem weltlichen Gericht wegen Missbrauch von Schutzbefohlenen zwar verurteilt worden, waren aber weiterhin als Seelsorger tätig. Kirchenrechtlich ist überhaupt nicht gegen sie vorgegangen worden. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass “von Fürsorge gegenüber den Opfern gar nichts erkennbar ist”. 

Missbrauchsfälle für Marx keine Chefsache 

Auch der amtierende Kardinal wird heftig angegangen. Er habe sich bis 2018 nicht ausreichend um die Aufklärung der Fälle gekümmert und diese nicht zur Chefsache erklärt, kritisiert Rechtsanwalt Martin Pusch. Der Erzbischof habe die Aufarbeitung an das Ordinariat und auf den Generalvikar abgeschoben. Marx fühlt sich nach eigener Aussage in erster Linie für die Verkündung des Wortes Gottes zuständig. Falsch habe er sich konkret in zwei Fällen verhalten. 

Kardinal Wetter hat in seiner 26 Jahre währenden Amtszeit 21 Fälle vertuscht. Mit einer Ausnahme hat er in allen anderen Fällen eine Verantwortung oder Fehlverhalten zurückgewiesen. Er habe ein mit Händen greifbares Problem schlicht verdrängt, so Pusch. 

Opfer von der Kirche bis 2002 überhaupt nicht wahrgenommen

Das Gutachten hat im Bereich des Erzbistums München von 1949 bis 2019 235 mutmaßliche Täter festgestellt, wovon 173 Priester gewesen sind. Die knapp 500 Geschädigten seien überwiegend männliche Kinder und Jugendliche gewesen. 60 Prozent waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Die Rechtsanwälte betonten, dass die Dunkelziffer weitaus höher sein dürfte. 

Nach den Untersuchungen der Gutachter konnten konkrete Taten bei 67 Kirchendienern (davon 40 Seelsorger) nachgewiesen werden, die krichenrechtlich nicht sanktioniert worden sind. 18 Priester sind auch weiter im Kirchendienst eingesetzt worden, obwohl sie verurteilt worden waren. Ein vernichtendes Urteil fällen die Rechtsanwälte beim  Opferschutz. Wörtlich sagte Rechtsanwalt Pusch dazu: “Die Geschädigten sind bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen so gut wie gar nicht wahrgenommen worden. Falls doch, dann nicht wegen des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Kirche sah.”

Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen: System Kirche besteht aus Machtmissbrauch und Willkür

Parallel zur Vorstellung des Gutachtens haben die Betroffeneninitiative Süddeutschland und das Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen in Deutschland mit Unterstützung der Giordano-Bruno-Stiftung gestern die Kunstaktion mit dem “Hängemattenbischof” auf dem Marienplatz in München durchgeführt (siehe Foto). Sie fordern von außen durch den Staat garantierte unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung der systematischen Verbrechen an Kindern und Jugendlichen und ihrer Vertuschung durch bischöfliche Verantwortungsträger. Es wird kritisiert, dass in zwölf Jahren bisher kein Verantwortungsträger der Kirche auf die Idee gekommen, Betroffene der Täterorganisation bei der Gründung kirchenneutraler Anlaufstellen und der Vernetzung der aus Eigeninitiative entstandenen Selbsthilfegruppen und Vereine zu unterstützen.


 

Hier die pdf-Version des Gutachtens “Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019” der Münchner Rechtsanwälte Westphal/Spilker

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